"Tatsache ist, dass das Gesundheitssystem hier nicht funktionieren würde ohne Migrantinnen und ohne migrantische Fachkräfte in der Pflege. Das wissen wir alle. Dennoch ist sehr wenig Wissen vorhanden über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten", so Philomina Bloch-Chakkalakkal, Praktikantin im Bereich Fachwissen & Advocacy. Sie hat ihre Masterarbeit zur Migration und dem Berufs- und Familienleben von «Nurses» aus Kerala (Südindien) geschrieben. Philo hat Soziologie, Deutsch und Gender Studies an der Universität Basel studiert. Ihre Masterarbeit ist nicht nur eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Migrationsgeschichte von indischen Pflegefachkräften in der Schweiz, sondern auch eine Aufarbeitung der eigenen Migrationserfahrungen und jener ihrer Familie. Mehr dazu und viele spannende, aber auch aufwühlende Informationen im Interview mit Philo.
Liebe Philo, worüber handelt deine Masterarbeit und wie verortest du deine (Doppel-)Rolle und Perspektive in dieser?
Ich habe für meine Masterarbeit sieben Pflegefachkräfte (sechs Frauen und einen Mann) aus Kerala interviewt, die zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren nach Europa migriert sind, um hier den Fachkräftemangel im Pflegesektor zu decken. In der Arbeit geht es mir darum, solche Rekrutierungsprozesse und deren Folgen sichtbar zu machen und die Perspektive der Migrant*innen selbst ins Zentrum zu stellen. Die Nurses (Selbstbezeichnung) berichten über ihre Migrationsgeschichte, über ihre Berufserfahrungen und darüber, wie sie ihr Familienleben über Grenzen hinweg gestalten.
Ich bin selbst Tochter einer der interviewten Nurses. Ich befand mich während der Recherche also in einer Art Doppelrolle. Einerseits als Betroffene von der Geschichte, die ich wissenschaftlich erarbeiten wollte und anderseits war ich auch als Forscherin da. Ich fand diese Rolle methodisch, aber auch emotional sehr anspruchsvoll. Aber genau diese Schnittstelle ist es, die für mich diese Arbeit auch ausmacht.
Du schreibst, dass es sich um eine frauengeführte Migrationsgeschichte von «Nurses» aus Kerala handelt. Könntest du das erläutern?
Das Zusammenspiel verschiedener Faktoren, z.B. Klassenverhältnisse in Indien und in Europa, die westliche Ausgerichtetheit des Krankenpflegeberufs oder die geltenden Geschlechterrollen in beiden Gesellschaften hat ab den 1960er-Jahren dazu geführt, dass junge Frauen aus Kerala emigriert sind.
Fast alle Malayalis (Menschen aus Kerala), die heute in der Schweiz leben, haben ihre Migrationsgeschichte den Frauen in ihren Familien, die für die Pflegearbeit ins Ausland immigrierten, zu verdanken. Und fast alle indischen Pflegefachkräfte in der Schweiz kommen aus Kerala.
In Indien ist das Gesundheitswesen der am schnellsten wachsende Wirtschaftssektor. Neben Philippinerinnen und Frauen aus Sri Lanka bilden Frauen aus Kerala eine der grössten Gruppen von Pflegemigrantinnen im internationalen Dienstleistungssektor.
Deine Masterarbeit hat den Titel «unsichtbar unverzichtbar». Warum hast du dich für diesen Titel entschieden?
Tatsache ist, dass das Gesundheitssystem hier nicht funktionieren würde ohne Migrantinnen und ohne migrantische Fachkräfte in der Pflege. Das wissen wir alle. Dennoch ist sehr wenig Wissen vorhanden über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Ich hatte viel Mühe für meine Arbeit Quellen zu finden. Deshalb auch der Titel meiner Arbeit: unsichtbar – aber unverzichtbar.
Wie fanden bzw. finden Rekrutierungen von «Nurses» aus Südindien statt?
Über die Verbindungen der katholischen Kirche fanden die ersten, missionarisch-humanitär begründeten Rekrutierungen in den 1960ern und -70ern statt. Bereits zehn Jahre später hat sich die Arbeitsmigration im Pflegeberuf zu einer auf Marktrationalität begründeten, staatlich unterstützten Industrie entwickelt. Eine gut etablierte Route hat sich in den letzten 30 Jahren formiert: von Kerala über die indischen Metropolen zum persischen Golf und, im Fall meiner Interviewten, in den globalen Norden. Durch ihre jahrzehntelange Migrationserfahrung haben die Frauen stabile Peer-Netzwerke aufgebaut, die sich über den gesamten Globus erstrecken und unabdingbar sind für Migrationsprozesse junger Menschen aus Kerala heute.
Meine Interviewten sind fast alle zuerst nach Deutschland oder Österreich migriert und sind über Peernetzwerke und in der Hoffnung auf besseren Lohn und mehr Arbeitszufriedenheit in die Schweiz gekommen. Zwei wurden direkt durch Schweizer Spitäler rekrutiert.
Die weibliche Arbeitskraft, gerade in der Care-Industrie, wird nicht zuletzt aufgrund von Fachkräftemängeln global «gehandelt». Was hat dies für Konsequenzen für die «Nurses» und ihre Lebenssituation, und für ihre Herkunftsregion?
Es gibt auf mehreren Ebenen eine ganze Kette an Folgen.
Anstatt die Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern, verfolgen europäische Staaten seit Jahrzehnten die nicht-nachhaltige Strategie einfach Pflegefachkräfte aus dem Ausland zu importieren. In den Herkunftsländern fehlen die Fachkräfte und nur die Gesundheitsversorgung der Reichsten ist gedeckt.
Daneben werden Migrant*innen mit den ganzen sozialen Folgen internationaler Pflegemigration alleine gelassen. Meine Interviewten, Mütter und Hauptverdienerinnen ihrer Familien, haben die Care-Verantwortung individuell umorganisieren müssen. Ausnahmslos alle beschreiben die Erfahrung von ihren Familien getrennt gewesen zu sein und kein gesellschaftliches Abfangnetz gehabt zu haben als traumatisierend bis heute.
Zudem gab es beispielsweise in Deutschland Mitte der 1970er Jahre einen Anwerbestopp. Die Ausländerbehörde teilte den zum Teil schon über zehn Jahre in Deutschland lebenden und arbeitenden asiatischen Pflegerinnen (aus Kerala und v.a. aus Südkorea) mit, dass ihre Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen nicht mehr verlängert werden würden. Hier sieht man beispielhaft wie mit kapitalistischer Logik Fachkräfte, das heisst Menschen, «eingekauft» und «weggeschmissen» werden. Die Pflegerinnen haben sich aber kollektiv organisiert und so ihre Rechte erstritten.
Wie sehen bzw. sahen die Arbeitsbedingungen aus, in welchen sich «Nurses» im Land wiederfanden, in das sie für die Arbeit migrierten?
Die Anwerbungen geschehen unter Slogans wie «Entwicklungshilfe», «Austauschprogramm» oder neu «Triple Win» - es wird die Annahme vorausgesetzt, dass eine Erwerbsarbeit in Europa für junge Frauen aus dem globalen Süden per se attraktiv sein würde. Diese Annahme erweist sich oft als falsch. Die Krankenpflegeausbildung meiner Befragten in Kerala hatte ein höheres Niveau und die Tätigkeiten waren qualifizierter und umfassten weniger Betreuungs- und Hilfsarbeiten als hier.
Meine Interviewten arbeiten alle seit mehreren Jahrzehnten in dem Beruf. Als rekrutierte Migrantinnen mit finanzieller Verantwortung fühlten sich alle verpflichtet weiterzumachen, auch wenn die Arbeit sie teilweise «kaputtmachte». Trotz allem sind ausnahmslos alle Interviewten (zurecht!) stolz auf ihre Tätigkeit, ihre Erfahrungen und ihre Skills. Sie können aber auch genau den Finger auf die Dinge legen, die in der Pflegearbeit strukturell verändert werden müssen.
Du sprichst in deiner Arbeit immer wieder von einer Zerrissenheit der «Nurses», auch aufgrund ihrer Care-Verantwortung gegenüber ihren Kindern und Familie und ihrer Identität im «fremden» Europa. Kannst du das etwas ausführen?
Die Frauen berichten von unterschiedlichen Herausforderungen, die sie in unterschiedlichen Lebensabschnitten meistern mussten. Als junge Frauen frisch in Europa hatten sie neben der komplett neuen und fremden Umgebung viel mit Heimweh und Einsamkeit wie auch mit der Last der ihnen auferlegten Verantwortung zu kämpfen.
Als Fachkräfte und Familienmenschen haben sie in ihrem Leben mit mehrfachen Betreuungsverpflichtungen gegenüber ihren Patient*innen einerseits und ihren Familien andererseits zu kämpfen. Sie müssen oft alleine zwischen mehreren Verantwortungen manövrieren, zum Beispiel als kompetente Facharbeiterinnen, pflegende ‘Schwestern’, kümmernde Mütter, zuverlässige Töchter und liebende Ehefrauen in transnationalen Beziehungskonstellationen. Heute stellen sich die meisten die Frage nach der Pensionierung. Wo möchte ich leben? Wo gehöre ich hin? Was ist meine Heimat?
Bild: Rückseite des Ausbildungszertifikats einer Interviewten: “Certificate of General Nursing and Midwifery” mit Migrationsstempeln. Ausgestellt in Thiruvananthapuram am 1. November 1984 (zVg)
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