Menschenhandel im Asylsystem: Warum werden Betroffene im Stich gelassen?
Eine Vernehmlassung der FIZ zur Übernahme des EU-Asylpakts in der Schweiz.
Die FIZ arbeitet seit rund 40 Jahren zum Thema Menschenhandel. Zu ihrem Angebot gehört, unter anderem, die Abteilung Opferschutz Menschenhandel (OM), in dem jährlich ca. 350 Opfer von Menschenhandel beraten und stationär in Schutzunterkünften untergebracht werden. Eine Zielgruppe von OM sind Betroffene von Menschenhandel im Asylbereich. Im Zeitraum von 2019-2024 hat die FIZ rund 300 Opfer von Menschenhandel, die sich in der Schweiz in einem Asylverfahren befanden, beraten und unterstützt. Die Erfahrungen mit dieser Zielgruppe haben gezeigt: Alle Faktoren, welche Betroffene von Menschenhandel vulnerabel machen, sind bei asylsuchenden Opfern nochmals deutlich akzentuiert. Die fehlenden sicheren und legalen Migrationswege sind einer der grössten Risikofaktoren, um (erneut) Opfer von Ausbeutung und Gewalt zu werden. Auch die Einführung des beschleunigten Asylverfahrens hat sich für diese Zielgruppe als besonders problematisch erwiesen, weil die nötigen Abklärungen zum Tatbestand sowie den nötigen Schutzmassnahmen innerhalb der kurzen Fristen kaum möglich sind. Entgegen Versprechungen vor Einführung des beschleunigten Verfahrens, dass solch komplexe Fälle ins erweiterte Verfahren überführt werden würden, befindet sich der Grossteil von Opfern von Menschenhandel standardmässig im Dublin-Verfahren – es gab keine humanitären Selbsteintritte explizit aufgrund von Menschenhandel bei unseren Klient*innen. Die Praxis macht deutlich: Die Einhaltung der Fristen und Abläufe des Asylverfahrens, insbesondere aber auch eine strikte Anwendung des Dublin-Verfahrens aufgrund von politischem Druck werden klar höher gewichtet als die Schutzpflichten gegenüber Opfern von Menschenhandel.
Die FIZ ist über die geplanten Änderungen, die im Rahmen des EU-Migrations- und Asylpakts zur Übernahme in der Schweiz vorgeschlagen sind, alarmiert und entsetzt. Der Mangel an flankierenden Massnahmen und die fehlende Priorisierung von Schutzpflichten wird mit den geplanten Änderungen dazu führen, dass der Zugang zu Schutz für geflüchtete Personen nochmals massiv erschwert wird – auch in der Schweiz. Die vorgeschlagenen Änderungen begünstigen Menschenhandel, Ausbeutung und Gewalt auf der Flucht und innerhalb Europas zusätzlich.
Im Folgenden werden wir auf einzelne, besonders problematische Aspekte der geplanten Änderungen eingehen und zeigen anhand eines Fallbeispiels auf, wie sich diese für Betroffene von Menschenhandel, die sich im Asylverfahren befinden, auswirken würde. In einem zweiten Teil nehmen wir spezifisch Bezug auf einzelne Gesetzesänderungen und Anpassungen.
Fallbeispiel Malaika*
„Aber wir waren immer zusammen. Wir sind doch Schwestern. Weshalb muss sie nun nach Kroatien zurück und ich nicht?“, fragte uns Juma verzweifelt. Zu Malaika gab es einen Eurodac-Treffer im System in Kroatien. Zu Juma nicht. Im Falle von Malaika bedeutet das, dass sie in eine Notunterkunft kommt, in der sie auf ihre Ausschaffung warten muss. Malaika wurde bereits nach dem ersten Beratungsgespräch in der FIZ an unsere hauseigene Psychiaterin verwiesen. Sie äussert mehrmals Suizidgedanken. Sie kommt in die Psychiatrische Klinik, wird wieder entlassen und kommt zurück in die Notunterkunft. Der Brief der Psychiaterin, obschon dem SEM und dem Migrationsamt angekündigt, wird nicht abgewartet. Darin steht: Malaika ist weiterhin stark suizidal, bei einer Ausschaffung nach Kroatien besteht akute Selbstmordgefahr. Doch während der Brief im Morgengrauen im Postverteilzentrum sortiert wird, sitzt Malaika bereits im Flugzeug nach Kroatien. Ebenfalls nicht berücksichtigt wird: Die Überstellungsfrist war eigentlich bereits abgelaufen. Die Schweiz hätte aufgrund der verstrichenen sechs Monate bereits selber auf das Asylgesuch eintreten und Malaika nicht nach Kroatien schicken, sondern sie gemeinsam mit ihrer Schwester das erweiterte Asylverfahren in der Schweiz durchlaufen lassen müssen.
*Alle Namen sind anonymisiert.
Detaillierte Bemerkungen
1. Die geplante Unterbringungspolitik an der EU-Aussengrenze und ihre Auswirkungen auf vulnerable Personen
Die Erfahrung aus der Beratung zeigt, dass ein Teil der Klient*innen erst an der EU-Aussengrenze Opfer von Menschenhandel oder Ausbeutung geworden ist. Das Risiko ist dort besonders hoch, wo die Aufnahmesysteme überlastet sind, wie in Griechenland und in Italien. Die dortigen Zustände, der fehlende Schutz und mangelnde Unterstützung haben dazu geführt, dass sie aus schierer Not, z.B. weil sie auf der Strasse leben mussten und nichts zu essen mehr hatten besonders vulnerabel für Ausbeutung waren. Andere wurden in den Massenlagern in Bulgarien oder Kroatien von Zentrums- und Sicherheits-personal belästigt, geschlagen und missbraucht. Auch Minderjährige. Auch Malaika.
Die dortigen Zustände sind bekannt, der Ansatz von Massenlagern an den Aussengrenzen Europas ist klar gescheitert. Dennoch setzt der Pakt darauf, genau diese Praxis fortzuführen und sogar noch zu intensivieren. Solche Lager sind verheerend: Eine Unterbringung und Begleitung, wie Betroffene von Menschenhandel es bräuchten und ihnen rechtlich zustehen würde, ist unmöglich. Nicht selten wird zudem von Mitarbeitenden der Camps Gewalt an Geflüchteten ausgeübt. Die Gewaltopfer können sich an niemanden wenden.
Die Vorgaben bezüglich allfälligen Vulnerabilitätsscreenings sind zu vage formuliert. Es wird nicht präzisiert, nach welchen Kriterien die Vulnerabilitätsprüfung erfolgen soll. Den einzelnen Staaten wird damit sehr viel Spielraum gelassen bei der Umsetzung. Die bereits grossen Unterschiede bei der Umsetzung von Menschenrechten in den verschiedenen EU-Ländern wird damit weiter akzentuiert, zu Ungunsten der Rechtsgleichheit von Geflüchteten. Das angedachte System verstärkt den Druck auf alle Länder, die sich an der EU-Aussengrenze befinden. Dass manche dieser Staaten die Ressourcen für die proportional deutlich höhere Zahl Geflüchteter, die sie unterbringen und zu versorgen haben, nicht aufbringen werden, wird sich negativ auf die Asylsuchenden vor Ort auswirken. Dies ist umso verheerender, als dass zwar von einer Solidarität unter den Mitgliedstaaten gesprochen wird, diese jedoch nicht verbindlich genug geregelt ist. Unter den zu erwartenden prekären Zuständen wird die Vulnerabilität von verletzlichen Gruppen und damit die Ausbeutungsgefahr exponentiell zunehmen.
2. Unterbindung von Weiterreisen innerhalb Europas
Malaika hat im Auffanglager in Kroatien Schreckliches erlebt. Mit der neuen Regelung wäre es für sie noch schwieriger gewesen, Kroatien zu verlassen und weiterzureisen: Das Weiterreisen innerhalb Europas soll stärker bestraft und die Zuständigkeit von Ersteintrittsländern an den Aussengrenzen von 12 auf 20 Monate erhöht werden. In der Theorie sollte der Aufenthalt in den Lagern rund 6 Monate dauern und in dieser Zeit Screening, Grenzverfahren und Rückkehrgrenzverfahren durchgeführt werden. Es ist jedoch absehbar, dass sich diese Fristen aufgrund verschiedener Verzögerungen in die Länge ziehen werden – und somit der Aufenthalt in den Lagern deutlich länger dauert. Bereits heute ziehen sich auch beschleunigte Verfahren deutlich in die Länge, es ist also nicht zu erwarten, dass sich bei einer erneuten Beschleunigung etwas daran ändern wird. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die Kapazitätsgrenzen der Auffanglager vielerorts überschritten und die Zustände für die einzelnen Geflüchteten noch unhaltbarer werden. Weshalb unter diesen Voraussetzungen die Weiterreise innerhalb Europas noch stärker sanktioniert werden soll, ist schlicht nicht nachvollziehbar und stossend.
3. Verlängerung der Überstellungsfrist – monatelanger Aufenthalt in der Notunterkunft
Schafft es dennoch eine Person, die Lager an den Aussengrenzen zu verlassen, in die Schweiz einzureisen und hier einen Asylantrag zu stellen, heisst das noch lange nicht, dass sie auch hier ein Asylgesuch durchlaufen darf. So geschah es auch bei Malaika, die trotz des Erlebten und ihrer grossen Vulnerabilität als Opfer von Menschenhandel zuerst in eine für vulnerable Personen höchst ungeeignete Notunterkunft kam und danach nach Kroatien zurückgeschafft worden ist.
Die Schweiz wurde dieses Jahr explizit von der Expert*innengruppe zur Bekämpfung des Menschenhandels GRETA explizit für ihre strikte Dublin-Praxis gerügt und aufgefordert, ihre Dublin-Praxis zu überdenken. Die angedachte Verlängerung der Überstellungsfrist ins Dublin-Land von 6 Monaten auf bis zu 3 Jahre ist für Opfer von Menschenhandel besonders problematisch. Anhand der aktuellen Situation mit der Verweigerung von Dublin-Rückübernahmen seitens Italiens und der gleichzeitigen Weigerung des SEM, in diesen Fällen vor Ablauf der Überstellungsfrist einen Selbsteintritt zu machen, sehen wir bereits jetzt in der Beratung die verheerenden Auswirkungen, welche die neue Regelung auf OMH haben wird:
- Das Ausscheiden aus den Asylstrukturen in die Nothilfe und Notunterkunft ist für Opfer von Menschenhandel besonders gravierend. Wenn auch die Situation in den Bundesasylzentren keinesfalls den Vorgaben für die Unterbringung von Opfern von Menschenhandel entspricht, bedeutet ein Transfer in eine Notunterkunft nochmals eine extreme Verschlechterung sowie das Wegfallen wichtiger Grundrechte, welche ihnen zustehen würden. Der Aufenthalt in einer Notunterkunft ist für alle Personen schwierig. Für höchst traumatisierte und gefährdete Personen sind die Zustände gänzlich unhaltbar und destabilisierend.
- Zur destabilisierenden Unterkunft kommt das Unwissen über ihren Verbleib hinzu. Werden sie an den Ort zurückgeschickt, an dem sie Schreckliches erlebt haben oder gar erstmals Opfer von Menschenhandel wurden und wo sich auch die Täterschaft befindet? Die Unwissenheit und das Warten kann aufgrund der absoluten Minimalleistungen, die sie in der Nothilfe erhalten nicht durch finanzierte Beratung oder Traumatherapie abgefedert werden.
- Das vorgesehene Bestrafungssystem, aufgrund dessen die Überstellungsfrist verlängert werden kann, könnte OMH besonders stark betreffen: Die Verschlechterung des psychischen, aber auch physischen Zustandes unter äusserst prekären Lebensumständen erleben wir in der Beratung unserer Klient*innen häufig. Da die Kriterien sehr vage formuliert sind, könnte insbesondere eine solche Verschlechterung des Zustandes unter Umständen als «vorsätzliches Untauglich machen» bestraft und die Frist verlängert werden. Dies könnte zu einem Teufelskreis führen, in dem sich Ursache und Wirkung stetig verschlimmern und die Personen unter Umständen drei Jahre lang in der Notunterkunft verbringen, bis sie überhaupt in der Schweiz ein Asylgesuch durchlaufen dürften. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Opfer von Menschenhandel nach einer solch langen Wartezeit unter schwersten Bedingungen sich von der erlittenen Gewalt erholen und eine stabile Existenz aufbauen kann, ist äusserst gering.
Es ist damit zu rechnen, dass der Druck mit den neuen Regelungen auf die Staaten an den Aussengrenzen zusätzlich steigt und vermehrt der Ausnahmezustand ausgerufen und Rückübernahmen gestoppt werden. Die Situation, wie sie aktuell für OMH mit Dublin Italien herrscht, könnte auch in vielen weiteren Dublin-Staaten Realität werden und dazu führen, dass eine Vielzahl von OMH in der Schweiz in Notunterkünften ausharren müssen, mitunter jahrelang. Und dies, nachdem sie ggf. bereits mehrere Monate in einem Lager an der EU-Aussengrenze festgehalten wurden, um im schlimmsten Fall kurz vor Ablauf der drei Jahre dorthin zurückgeschickt zu werden.
Die absehbar steigende Anzahl Asylsuchender in den Notunterkünften wird die Unzufriedenheit der Gesellschaft mit dem Asylsystem und den Druck auf Asylsuchende erhöhen. Anstatt aktiv nach praktikablen Lösungen zu suchen und zu verhindern, dass die Personen überhaupt in die Nothilfestrukturen transferiert werden, trägt die Schweiz so aktiv zu einer Verschlechterung bei, welche mitunter die nächste Verschärfung rechtfertigen wird. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass bereits jetzt Lösungen gesucht werden, wie mit einer möglichen Nicht-Rückübernahme durch (weitere) Dublin-Staaten in Zukunft umgegangen wird – eine Abschiebung in die Nothilfe, wie sie aktuell praktiziert wird, ist aus Sicht der FIZ keine Option.
4. Schutzrechte von Kindern wahren: Kein Übertritt ins Erst-Antragsland
Besonders schockierend ist die im Pakt neu vorgesehene Regelung, dass auch unbegleitete Minderjährige in das Erstantragsland zurückgeschickt werden können. Konkret soll neu nicht mehr das Land, in welchem der letzte Asylantrag eingereicht wurde, sondern - gleich wie bei Erwachsenen - das Land, in dem der erste Antrag eingereicht wurde, zuständig sein. Diese Regelung widerspricht direkt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und steht den UN-Kinderrechten diametral entgegen. Auch in diesen Fällen braucht es deshalb einen Selbsteintritt der Schweiz, sofern der Verbleib dem übergeordneten Wohle des Kindes entspricht.
Fazit
Die fehlenden legalen Migrationswege sowie die unhaltbare Situation für Geflüchtete an den EU-Aussengrenzen begünstigen Menschenhandel. Die rigorose Dublin-Praxis der Schweiz ignoriert die Schutzrechte von Opfern von Menschenhandel und trägt dazu bei, dass die An-zahl Betroffener steigen wird: Sie werden dorthin zurückgeschickt, wo ein besonders grosses Risiko besteht, erneut Opfer zu werden – an die EU-Aussengrenzen. Die FIZ pocht darauf, dass unter den neuen Umständen vom Spielraum des Selbsteintritts insbesondere für vulnerable Personen wie Opfer von Menschenhandel endlich Gebrauch gemacht wird. Der Selbsteintritt ist die einzige Schutzmöglichkeit für Menschenhandelsopfer, die in diesem System noch bleibt.
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